Ernst Cran - Rheinwiesengedenken Bretzenheim - Totensonntag 2023

Ernst Cran - Bretzenheim-Gedenken am 26. November 2023 Emma und Emilia haben heute Geburtstag. 3 und 12 Jahre alt werden die beiden Mädchen; sie stammen aus meinem familiären Umfeld. An ihrer Geburtstags-Kaffeetafel fehle ich heu-te. Mein Platz ist heute woanders: Totensonntag an den Rheinwiesen. Totensonntag an den Rheinwiesenlagern. Totensonntag am „Feld des Jammers“ hier in Bretzenheim. Totensonntag bei den Toten - bei unseren Toten, bei den Toten des letzten großen Waffenganges gegen unser Volk und Land. Bei den Toten jenes Krieges, der als „2. Weltkrieg“ bezeichnet wird; in Wahrheit doch der 2. 30-jährige Krieg - und seit 1914 längst zum 2. 100-jährigen Krieg geworden; er wurde ja nie durch Friedensschluß beendet, nur die Waffen haben sich gewandelt. Die Toten der Rheinwiesen, die Lager entlang des Rheins, fein durchnummeriert von A1 bis A19, von C1 bis C4. Und das Lager Winzenheim/Bretzenheim - „PWTE A6“. Die Toten der Rheinwiesen, hineingepfercht in einen „geplanten Tod“ - eine Million mindestens - dazu die Hunderttausende, die dann vom Durchgangslager Bretzenheim in die französischen Zwangsarbeitsverendungslager überführt wurden. Die Toten der Rheinwiesen - begrifflich wie eine Randnotiz in alliierter Zahlenakrobatik verdeckt, versteckt, vergraben, verborgen. Ich benutze die von den Verursachern hierfür verwendeten Vokabeln: „Other losses“ - „Sonstige Verluste“. Unter „Sonstiges“ abgehandelt, abgebucht. Keine weiteren Bemerkungen wert, einfach verschwunden - wie in Nichts aufgelöst … Totensonntag bei unseren Toten an den Rheinwiesen. Es ist richtig so: Diesen Tag den Toten widmen - und damit den Lebenden dienen! An diesem Tag sich den Toten zuwenden - und damit die Lebenden lebendiger machen! Wie das? Ich erlaube mir eine Phantasie; ich könnte auch sagen: „I have a dream“ … Wie wäre das, wenn jeder einzelne Tote der Rheinwiesen einen Paten unter den heute Lebenden fände? Wie wäre das, wenn jeder Einzelne der hier Verendeten einen Gefährten unter den Lebendigen fände? Einen, der für ihn einsteht. Einen, der sein Gedenken ehrt. Einen, der die Wahrheit bezüglich seines Umkommens formuliert und ausspricht. Einen Paten für jeden einzelnen Rheinwiesen-Toten. Eine Million Paten mindestens! Und wie wäre das, wenn jeder tote Deutsche aus diesem Krieg - ob mit oder ohne Uniform - einen Paten unter den Lebenden fände? Jeder Tote! Wir reden von Millionen - von vielen Millionen. Wir reden vom zig-Fachen der eingeräumten, der zugegebenen und heruntergerechneten Zahlen. Von bis zu 24 Millionen Toten reden wir - und dann auch von ebenso vielen Paten unter den Lebenden! Und wie wäre das, wenn neben den Toten auch alle die Verletzten, Verstümmelten, an Leib und Seele Gebrochenen und Zerrissenen - heute sagt man dazu: „Traumatisierten“ - wenn auch all diese einen Paten unter den Lebenden fänden? 24 Millionen Paten - und noch einmal so viele dazu - und sicher noch viele Millionen mehr! Ein ganzes Volk in Patenschaft für die in diesem Kriege erzwungenen Qualen an Leib und Seele. Ein ganzes Volk in Patenschaft für die Gewesenen, deren Lebens- und Leidensecho doch in uns Heutigen weiterschwingt. Ein ganzes Volk in Patenschaft - jeder Einzelne für einen der Gegangenen, jeder Lebende für einen, dessen Geschichte und Gebeine längst im Meeresrauschen der Zeit und im Schoß der Elemente eingewebt und verinnerlicht sind. Ihre genaue Zahl wird man nie ermitteln - genauso wenig all ihre Namen. Das Entscheidende findet ja in den Herzen der Paten statt: Jedes einzelne Herz, das sich verbunden weiß mit einem, das unter Schmerzen vergangen ist. Jedes einzelne Herz, das sein Dasein mit dem Dasein eines jener Gegangenen verschweißt weiß: „Ich verdanke mich jenen, die vom Boden unseres Landes weggewischt wurden wie lästiges Ungeziefer von einer fetten Beute. Ich verdanke mich jenen, die alleine durch ihr Dasein der Vernichtung preisgegeben waren; der Beliebigkeit und Willkür ihrer Bezwinger schutzlos ausgeliefert. Ich verdanke mich jenen - und ich als Heutiger stehe ganz konkret für einen der Damaligen. Ich als Pate für einen Geschundenen und Toten.“ Ich als Pate - und das millionenfach, vielmals millionenfach; volksweit, volksumfassend! Wie wäre das? Was würde geschehen, wenn dem so wäre? Einigkeit würde geschehen, Verbundenheit würde geschehen, unbedingte Geschlossenheit würde geschehen - und Kraft würde daraus erwachsen, Stärke würde daraus entstehen - das Wissen und Erleben des Bleibenden im Angesicht all des Gewesenen. Eine Phantasie - gewiss. Doch jede Phantasie erwächst auf realem Boden - so wie ja auch eine Ballonfahrt von einem konkreten Startplatz aus beginnt, bevor sie sich in die Dynamik des Raumes enthebt und sich mit ihren Passagieren dessen weitem Wehen ergibt. Jede Phantasie trägt einen realen Ursprung in sich, den sie wie einen Samen in das Werden und Gedeihen in Räume und Zeiten hinein ergießt. Der Startplatz für den Ballon der volksweiten Patenschaft für unsere Toten und ...
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